Männer und Frauen haben in Deutschland nicht die gleichen Chancen im Job, auch wenn dies Führungskräfte anders wahrnehmen. Das zeigt die aktuelle Innofact-Befragung unter mehr als 400 Führungskräften in Deutschland im Auftrag der Initiative "Chefsache". Demnach ist die Mehrheit der Befragten (68 Prozent) davon überzeugt, die Talententwicklung in ihrem Unternehmen böte Frauen und Männern gleiche Karrierechancen. Doch nur weniger als ein Drittel (29 Prozent) der Befragten geben an, dass es in ihrem Unternehmen standardisierte Kriterien gibt, mit denen Talente identifiziert und in passende Positionen befördert werden. Weniger als die Hälfte der Befragten (44 Prozent) erklärte, es gäbe in ihrem Unternehmen ein systematisches Talentmanagement, in Firmen mit weniger als 500 Beschäftigten sogar nur knapp 32 Prozent. Auch bei der Transparenz besteht Nachholbedarf: Nur 41 Prozent der Befragten gaben an, dass in ihrem Unternehmen regelmäßig Daten in Bezug auf den Frauenanteil und die Beförderung von Frauen erhoben werden.
"Die Zahlen offenbaren sehr deutlich, wie groß die Lücke zwischen Denken und Realität in punkto Karrierechancen von Frauen und Männern ist. Die Wahrnehmung in den Köpfen ist allerdings entscheidend, wenn wir etwas ändern wollen", sagt Janina Kugel, Personalvorstand der Siemens AG. Das Unternehmen ist zusammen mit 24 weiteren Organisationen Mitglied bei der Initiative "Chefsache".
Gleichzeitig ergab die Befragung, dass Führungskräfte vor allem diejenigen Talente fördern, die ihnen selbst am ähnlichsten sind, d.h. in Bezug auf Geschlecht, Herkunft, Alter und Ausbildung. Auf Diversität bei der Zusammenstellung der Teams oder bei Beförderungen achtet lediglich jeder fünfte der Befragten. Nur 27 Prozent der Führungskräfte geben an, Gender Diversity sei eines der zehn wichtigsten strategischen Ziele ihres CEOs. "Dabei sind divers aufgestellte Unternehmen deutlich erfolgreicher", kommentiert Dr. Bettina Volkens, Vorstandsmitglied der Lufthansa Group und Arbeitsdirektorin im Ressort Personal und Recht. "Vielfalt in all ihren Dimensionen ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, innovationsstark und wandlungsfähig zu bleiben und sich langfristig eine führende Position im Wettbewerb zu sichern."
Zusätzliche Probleme bereitet der Einfluss von "Unconscious Bias" (unbewussten Vorurteilen) bei der Einstellung und Beförderung von Mitarbeitern. Über die Hälfte der Befragten (53 Prozent) kennt "Unconscious Bias" nicht oder hat sich noch nicht eingehend damit beschäftigt. Dies fördert ungerechte Personalentscheidungen. Zudem werden Führungspositionen immer noch selten mit Teilzeitkräften besetzt. Insgesamt 84 Prozent der befragten Entscheider berichten, in ihrem Unternehmen würden flexible Arbeitszeitmodelle für Führungspositionen nicht oder nur vereinzelt unterstützt.
Plädoyer für Chancengerechtigkeit aller Talente
Die Ergebnisse der Führungskräftebefragung zeigen, wie groß die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität ist. Hier setzt die Initiative "Chefsache" mit konkreten Konzepten an und plädiert in ihrem aktuellen Report "Talententwicklung neu denken" für mehr Chancengerechtigkeit aller Talente und ein ausgewogenes Verhältnis der Geschlechter. Der Report zeigt, wie eine faire und leistungsgerechte Förderung von Frauen und Männern im Alltag gelingt, und was Organisationen, Führungskräfte und Talente selbst dazu beitragen können. Mit konkreten Empfehlungen, die sich ebenso auf aktuelle Forschungsergebnisse wie auf praktische Erfahrungen aus dem "Chefsache"-Netzwerk stützen, macht die Initiative deutlich: Die Herausforderungen der chancengerechten Talententwicklung lassen sich oft einfacher als vermutet lösen. Folgende Lösungsansätze werden dabei vorgestellt:
1. Recruiting und Onboarding: Chancengerechte Talententwicklung beginnt mit einer Stellenausschreibung, bei der sich alle Bewerber angesprochen fühlen. Nur 41 Prozent der befragten Führungskräfte nutzen bereits gendersensible Sprache bei Ausschreibungen. Eine datenbasierte Kandidatenauswahl durch Tools und Algorithmen schafft zusätzliche Chancengerechtigkeit von Beginn an.
2. Feedbackkultur und Leistungsbeurteilungen: Eine offene Feedbackkultur hilft Nachwuchskräften, Stärken auszubauen und Entwicklungsbedarf zu erkennen. Technische Lösungen wie Feedback-Apps können dabei unterstützen. Die Bewertung von Mitarbeitern sollte auf eine möglichst breite Basis gestellt werden – von Beurteilungen durch Vorgesetzte bis zu Kolleginnen und Kollegen unterschiedlichster Hierarchiestufen.
3. Talentprogramme: Unternehmen sollten Programme initiieren, mit denen Kernkompetenzen, Vernetzung und Engagement der Talente gefördert werden. Solche Programme liefern Anerkennung für erbrachte Leistungen und neue Perspektiven, wirken zudem unternehmensbindend. Sie sollten auf alle Talente zugeschnitten werden, da meist mehr Männer als Frauen für solche Programme nominiert werden.
4. Interne Karriereberatung und Coachings: Interne Karriereberatungen und Coachings, in denen Stärken erkannt und Ziele definiert werden, unterstützen weibliche und männliche Talente auf ihrem Weg in Top-Positionen. Prominentes Beispiel ist die "Grow2Glow" Coaching-Initiative von Siemens, die sich an weibliche Talente richtet. "Die Initiative führt zu mehr Diversität und Innovationskraft im Unternehmen. Und sie zeigt, die Organisation kann einen Beitrag zur Talententwicklung von Frauen leisten, wenn erforderliche Freiräume geschaffen werden", sagt Janina Kugel, Personalvorstand von Siemens.
5. Sonderprojekte und Jobrotationen: Viele Organisationen wenden viel Zeit auf, um externe Talente zu gewinnen. Der interne Stellenmarkt bietet ebenfalls Führungsnachwuchs, Stellen sind so meist sogar schneller zu besetzen. Ein Portal mit offenen Positionen schafft Transparenz für beide Seiten: Es vereinfacht den Zugang zu Projekten und neuen Aufgaben und mindert Verlustängste von Führungskräften.
6. Besetzung von Schlüsselfunktionen: Nachfolgebesetzungen erfolgen oft reaktiv und nicht im Rahmen systematischer Talententwicklung. Transparente Ausschreibungen sind Grundvoraussetzung für Chancengerechtigkeit. Unterstützend wirken diverse Kandidatenlisten, divers besetzte Gremien und ein leichter Zugang zu Talentplattformen, auf der jeder selbstständig sein Profil aktualisiert.
7. Rolle der Führungskräfte: Führungskräfte, die sich selbst als Mentoren verstehen, können Stärken, Ziele oder Konflikte eines Talents genauso einschätzen, wie Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten – kritisch, aber neutral. Führungskräfte können darüber hinaus als aktive Sponsoren eines Talents wirken und sich für dessen Fortkommen einsetzen. Manager der oberen Ebenen sollten als Rollenmodell agieren und Wissen teilen. Mentoring- und Sponsoring-Beziehungen zwischen Chef und Talent nutzen dem gesamten Unternehmen.
Unterstützen können dabei auch formelle Matching-Prozesse. Das Ziel ist, Personen aus unterschiedlichen Abteilungen zu vernetzen und die Kommunikation über Hierarchien und Themen hinweg zu intensivieren. Die Deutsche Lufthansa AG hat mit solchen Programmen gute Erfahrungen gemacht: "Durch das gesteuerte Mentoring erhalten Mitarbeiter nicht automatisch eine neue Position, sondern vielmehr Perspektiven und Tools, um die nächsten Schritte selbst zu gehen", erläutert Bettina Volkens, Personalvorstand bei Lufthansa.
Den kompletten Report finden Sie unter www.initiative-chefsache.de
Zur Umfrage
Im Auftrag der Initiative "Chefsache" befragte das Meinungsforschungsinstitut Innofact im April 2018 mehr als 400 hochrangige Führungskräfte online – davon 97 Prozent leitende Angestellte oder Beamte im höheren oder gehobenen Dienst sowie drei Prozent Geschäftsführer.