Mal eben aussortiert wegen Fleck, Tipp- oder Grammatikfehler in den Bewerbungsunterlagen?

Bewerbungsanalyse
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Worauf achten Personaler bei der Sichtung von Bewerbungsunterlagen? Das hat der Wirtschaftspsychologe Prof. Kanning von der Hochschule Osnabrück genauer hinterfragt. Das Ergebnis lässt aufhorchen, insbesondere wenn man gleichzeitig immer wieder von der großen Problematik des Fachkräftemangels hört.

Mit der Sichtung von Bewerbungsunterlagen ist es wie bei allen Personalauswahlentscheidungen: man kann nicht passende Bewerber durchwinken oder geeignete Bewerber viel zu früh aussortieren und so an die Konkurrenz verlieren. Ob und wieviele Fehlentscheidungen getroffen werden, hängt von der kompetenten Durchführung des jeweiligen Auswahlschrittes ab. Sieht man sich die Ergebnisse der genannten Studie (durchgeführt 2013, 244 Teilnehmer) an, muss man davon ausgehen, dass viele grundsätzlich passende Bewerber durch die Maschen fallen.

2 wesentliche Ergebnisse und ihre Folgen

  • Ergebnis 1: 47% der Befragten schauen sich Bewerbungsunterlagen ohne vorherige Festlegung von klaren, jobbezogenen Bewertungskriterien an. Vielmehr legen sie individuelle, oft mit der Stelle und den Anforderungen wenig im Zusammenhang stehende Maßstäbe an.

Die Folge: Je nach persönlichem Maßstab desjenigen, der sich eine Bewerbung anschaut, ist es Glück oder Pech für den Bewerber, ob er weiterkommt. Der eine Beurteiler fährt voll auf Rechtschreibefehler (“Sorgfalt”) ab, für den anderen ist wichtig, ob der Bewerber kein Einzelkind (“Teamfähigkeit”) ist, der Dritte legt Wert auf eine möglichst viel Weiterbildung (“Lernbereitschaft”), für den vierten spielt Geschlecht (“Ausfallwahrscheinlichkeit”) eine wichtige Rolle und der fünfte schaut vor allem auf das Foto. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Typische Bewertungs- und Beurteilungsfehler (z.B. Halo-Effekt, Sympathie-Effekt, Nimbus-Effekt) haben hier offene Einfallstore. Schauen sich unterschiedliche Personen die Unterlagen an – z.B. Personal- und Fachbereich – besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Bewertung, unnötiger Diskussionen und Fehlentscheidungen.

  • Ergebnis 2: Ausgewählten Formal- und Gestaltungsfaktoren wird eine (zu) hohe Bedeutung beigemessen. Flecken, Tipp- oder Grammatikfehler oder ein wenig übersichtlich gestalteter Lebenslauf sind den selektierenden Personen fast ebenso wichtig (86-89%) wie die Berufserfahrung (91%), die jemand mitbringt oder eine Tätigkeitsbeschreibung (85%).

Die Folge: Es werden Maßstäbe herangezogen und Interpretationen abgeleitet, für die es keinen wissenschaftlichen Beleg gibt, dass sie etwas über die Persönlichkeit eines Bewerbers oder seinen Berufseignung aussagen. Weder gibt es einen Beleg dafür, dass Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit eines Bewerbers an Tipp-/Grammatikfehlern festgemacht werden können, noch dass eine Lücke im Lebenslauf auf fehlendes Engagement und Zielorientierung hinweisen. Und für viele der zu besetzenden Stellen spielen z.B. Tipp- oder Grammatikfehler auch gar keine Rolle, weil z.B. kaum etwas geschrieben wird oder es keine große Relevanz hat, ob ein Fehler darin ist.

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Empfehlungen

Was also tun – wo doch die Sichtung von Bewerbungsunterlagen für nahezu jede Stelle der Einstieg in die Personalauswahl ist und darüber entscheidet, ob ein Bewerber in den nächsten Auswahlschritt kommt oder nicht? Dazu greife ich die Empfehlungen von Prof. Kanning gerne auf und erweitere sie noch etwas:

1.Klare und für die Stelle relevante Bewertungsmaßstäbe zur Analyse der Bewerbungsunterlagen festlegen. Idealerweise sollte eine solche Festlegung im Dialog zwischen Personal- und Fachbereich vorgenommen werden. Empfehlenswert sind 3-5 Bewertungskriterien, die auch konkret beschrieben sind (z.B. “einschlägiges Studium” – welche Studiengänge fallen hierunter, wie ist ein nebenberufliches, duales Studium oder klassisches Vollzeitstudium einzuordnen?,  “anspruchsvolle Praktika ” – was heißt hier “anspruchsvoll” konkret?; Projekterfahrung – welche Rolle ist konkret gemeint? etc.).

2. Gewichtungen und Kompensationsmöglichkeiten festlegen. Es sollte klar sein, welche Bewertungsfaktoren eine höhere oder geringere Priorität haben oder z.B. durch andere Faktoren aufgewogen werden können (z.B. kann eine fehlende Formalqualifikation durch entsprechende einschlägige Berufserfahrung kompensiert werden). Außerdem sollten absolute No Go´s festgehalten werden (z.B. eine Gehaltserwartungen, die die Möglichkeiten sprengen würde, eine fehlende Fremdsprache, die für das Tagesgeschäft unabdingbar und auch nicht kompensierbar wäre etc.).

3. A-B-C-Tabelle aufstellen. In dieser wird abgestuft beschrieben, welche Merkmale oder Merkmalskombinationen einen A-, B- oder einen klaren Absagekandidaten ausmachen. Das ermöglicht eine durchgängigere und objektivere Einstufung, auch wenn verschiedene Personen den Bewerbungseingang selektieren. Außerdem hat man im Fall einer AGG-Diskussion einen Beleg dafür, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgt ist.

4. Relevanz von Formal- oder Gestaltungskriterien objektiv betrachten. Rechtschreibung, Grammatik und Co. sollten wirklich nur dort herangezogen werden, wo sie offensichtlich auch eine Relevanz für den Job haben, z.B. weil sie eine Außenwirkung haben oder die Verständlichkeit gefährdet ist.

5. Wissenschaftlich fundierte Verfahren Interpretation und Spekulation vorziehen: Die besten Aussagen über eine Person und ihre Fähigkeiten bekommt man nachweislich über objektive und valide  Test-, Interview- und/oder Assessment Verfahren. Der Markt bietet verschiedene Möglichkeiten kompetenzbasierter (Online-) Test- und Assessment-Verfahren an. Anbieter findet man z.B. auf dem Marktplatz Recruiting im Portal Rekrutierungserfolg.de. Eine Orientierung zur Auswahl von Produkten/Verfahren ist die DIN 33430, die Qualitätskriterien für Eignungsdiagnostik beschreibt.

Fazit

Wer jetzt sagt: ganz schön viel Aufwand, um sich Bewerbungen anzusehen, der irrt. Denn er vergisst den Aufwand und Schaden, der entsteht, wenn man einen nicht wirklich passenden Bewerber zu Vorstellungsgesprächen einlädt und ggf. auch noch einstellt. Im Recruiting Trends Report 2014 von PAPE Lab gaben 35% der Befragten an, in den letzten 6 Monaten mindestens eine personelle Fehlentscheidung gefällt zu haben. Die Kosten, die den Unternehmen dadurch entstanden sind, wurden mit durchschnittlich 50.000 EUR (je nach Position zwischen 30 und 100 TEUR) angegeben (S. 11).

Daher gilt wie so oft im Leben: gute Vorbereitung ist alles. Und aus eigener Erfahrung weiß ich: mit der Übung geht es immer schneller und dann ist der Vorbereitungsaufwand fast vernachlässigbar.

 

Weitere Literaturhinweise:

Kanning, U. (2014): Oh Schreck, ein Fleck!, in: Personalmagazin Heft 6/2014, S. 38ff.

Holzmüller, M. (2011): Zu schön, um gut zu sein. (https://www.sueddeutsche.de/karriere/attraktive-bewerber-zu-schoen-um-gut-zu-sein-1.1024019)

Brenner, F. (2013): Lebenslaufanalyse (https://www.haufe.de/personal/hr-management/methodenmix-in-der-personalauswahl/lebenslauf-analyse_80_205812.html)

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Bildnachweis: Bewerbung © upo

* Auch wenn wir zu Gunsten der Lesbarkeit auf die gleichzeitige Nutzung aller Genderformen verzichten, meinen wir immer alle Geschlechter.

Ruth Böck
Ruth Böck
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